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26.10.2018

Fließgewässer in Gefahr – Umweltstiftung Michael Otto ruft zum Dialog auf

Wie können wir unsere Flüsse als naturnahe Lebensräume bewahren und welche Naturschutzstrategien und politischen Instrumente sind dafür notwendig? Die 15. Hamburger Gespräche für Naturschutz unter dem Titel „Fließ oder stirb – Ein Symposium über den Umgang mit unseren Flusslandschaften“ der Umweltstiftung Michael Otto haben einflussreiche Vertreter aus Wissenschaft, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Politik versammelt, um Impulse für die Gestaltung zukunftsweisender und nachhaltiger Lösungen zum Schutz unserer Gewässer zu setzen und den gesellschaftlichen Dialog zu fördern.


Eine der größten globalen Herausforderungen unserer Zeit ist der Rückgang der biologischen Vielfalt, insbesondere in unseren Fließgewässern. Schon jetzt sind weltweit knapp ein Drittel aller Süßwasserarten ausgestorben oder vom Aussterben bedroht. Laut Europäischer Umweltagentur sind in Deutschland mehr als 90 Prozent der Gewässer in einem schlechten ökologischen Zustand. Die Ursachen sind komplex, liegen aber vor allem in der hydromorphologischen Degradation der Gewässer durch Verbauung und Begradigung, in der durch Wehre unterbrochenen Durchgängigkeit der Fließgewässer, in fehlendem Raum für natürliche Uferzonen und Auen, sowie in Stoffeinträgen aus der Landwirtschaft.


In den Zeiten eines rapiden Umweltwandels hält Stifter und Unternehmer Prof. Dr. Michael Otto die bisherigen Anstrengungen zur Erreichung der gewässerpolitischen Ziele für nicht ausreichend. „Es besteht dringender Handlungsbedarf, damit unsere Flüsse und Auen ihre vielfältigen, wertvollen Ökosystemleistungen auch in Zukunft unter den wachsenden gesellschaftlichen Ansprüchen erbringen können. Ein intensiver Dialog und eine enge Zusammenarbeit aller wesentlichen Akteure aus Politik, Wirtschaft und Naturschutz sei eine unabdingbare Voraussetzung dafür“, sagte Prof. Dr. Michael Otto bei den Hamburger Gesprächen für Naturschutz.


Auch Steffi Lemke, naturschutzpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, forderte, dass Bund und Länder sich verstärkt für den Schutz frei fließender Flüsse einsetzen sollten, um einerseits an den vor achtzehn Jahren gemeinsam beschlossenen Zielen der Europäischen Wasserrahmenrichtlinie (EU-WRRL) festzuhalten und andererseits die Einhaltung der Umsetzungsfristen zielgerichtet zu verfolgen. Für Gewässer, welche die Umwelt- bzw. Bewirtschaftungsziele nicht erreichen, können zwei Fristverlängerungen von je 6 Jahren bis spätestens 2027 in Anspruch genommen werden. „Die Wasserrahmenrichtlinie ist das wichtigste Schutzinstrument für unsere Gewässer. Als Symbol für die politische Gestaltungskraft der Demokratie muss die Wasserrahmenrichtlinie eine stärkere Unterstützung erfahren“, betonte Lemke. Die Wasserrahmenrichtlinie verpflichtet alle EU-Mitgliedstaaten, Maßnahmen zum Schutz von Flüssen, Seen, Küstengewässer und Grundwasservorkommen umzusetzen. Sie ist die rechtliche Grundlage, um alle Gewässer bis zum Jahr 2027 in einen guten ökologischen Zustand zu überführen. In einem sogenannten „Fitness Check“ überprüft die EU derzeit, ob diese Vorgaben noch zweckdienlich sind. Auch auf Bund-Länder-Arbeitsebene wird darüber diskutiert. Laut Lemke muss die Bundesregierung sich auf europäischer Ebene entschlossen dafür einsetzen, dass die Wasserrahmenrichtlinie im Rahmen der derzeitigen Überprüfung unangetastet bleibt. „Zur Erreichung dieses Ziels bedarf es jedoch keiner Änderung des rechtlichen Rahmens, sondern konkreter Schritte, wie eine Abkehr von Stoffeinträgen aus der Landwirtschaft und mehr Raum für natürliche Ufer und Auenwälder“, postulierte Lemke.


Umdenken im Management der Gewässer erforderlich

Seit Jahrzehnten greift der Mensch massiv in das komplexe Ökosystem der Flusslandschaften ein. Gerade die Wasserkraft erlebt derzeit einen weltweiten Boom. Klein- und Kleinstwasserkraftanlagen weisen einen überproportional hohen Ressourcenverbrauch – in Form frei fließender Strecken – auf, tragen aber kaum zur Energiesicherung bei. Durch die erheblichen Eingriffe in die Natur drohen zudem irreversible ökologische Schäden. Und obwohl die Wasserkraft als klimafreundliche Energie-Option gilt, werden auch Treibhausgase wie Methan, Kohlendioxid und Lachgas ausgestoßen. Die durchschnittlichen globalen Investitionen in die Wasserkraft haben sich im letzten Jahrzehnt mehr als versechsfacht. Die erwarteten Investitionen in den globalen Dammbau belaufen sich in den beiden kommenden Dekaden auf mehr als zwei Billionen US$. Derartige Investitionen schränken die Entwicklung von alternativen Maßnahmen für zukünftige Generationen massiv ein. Die Folgen sind vielfältig und äußern sich nicht zuletzt in einem deutlichen Verlust an Biodiversität. Die einstigen Hotspots der biologischen Vielfalt versiegen. Zurück bleiben begradigte, künstliche Wasserstraßen. Um die fortschreitende Domestizierung unserer Gewässer und den rapiden Rückgang der biologischen Vielfalt aufzuhalten, bedürfe es eines grundlegenden Umdenkens im zukünftigen Management der Gewässer, sagte Prof. Dr. Tockner, Präsident des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. „Für die zukünftige Entwicklung von Managementstrategien ist es daher unerlässlich, stärker als bisher den kurzfristigen Nutzen der Domestizierung gegen die langfristigen Folgen abzuwägen.“


Erfolgsfaktoren für den Naturschutz

Zwei Praxisbeispiele zeigen, wie einem Fluss mehr Raum gegeben werden kann, um eine nachhaltige Sicherung der biologischen Vielfalt und der Ökosystemleistungen zu gewährleisten: Die Renaturierung der Unteren Havel als Europas bedeutendes Binnenfeuchtgebiet zeigt, wie durch geordnete Prozesse im Rahmen eines Regionalentwicklungskonzepts und durch Diskussionen mit allen beteiligten Akteuren auf Augenhöhe, ein lebendiger, naturnaher Fluss entstehen kann. Mit dem teilweisen Verzicht auf die weitere Nutzung der Havel als Bundeswasserstraße wurde eine wichtige Weichenstellung vorgenommen. Das Ziel, die Gewässerstruktur zu verbessern und zusätzliche, durchströmte, unverbaute Flussabschnitte zu schaffen, konnte somit erreicht werden.


Eine weitere Erfolgsgeschichte ist die Prypjataue im Süden der Republik Belarus, eine der letzten noch weitgehend naturnahen Tiefland-Stromauen in der gemäßigten Zone Europas. Dort hat die Umweltstiftung Michael Otto als erste „westliche“ Organisation Projekte gefördert. Neben der Erkundung der weißrussischen Auen und Moore waren drei internationale Konferenzen zum Schutz der Auen und Niedermoore in der Polessie (Grenzgebiet Belarus/Ukraine) sowie die Gründung der weißrussischen Vogel- und Naturschutzorganisation APB (BirdLife Belarus) im Jahr 1998 entscheidende Schritte zur Wiedervernässung und Renaturierung von über 50.000 ha entwässerter Moore. Das bereits vorhandene Schutzgebietssystem in Belarus wurde wesentlich ausgebaut, Managementpläne insbesondere für Moorlandschaften erarbeitet und die Themen Klimaschutz, Moorschutz und Biodiversität miteinander verbunden.


Aufruf zum Dialog

Auch wenn es vereinzelt gute Beispiele aus der Praxis gibt, so sind die Flüsse in Europa und in Deutschland insgesamt in einem schlechten ökologischen Zustand. Ein Grund dafür ist, dass die Ziele des Gewässerschutzes vermehrt in Konkurrenz zu den Zielen im Energiesektor, der Landwirtschaft, der Schifffahrt oder dem Hochwasserschutz stehen. Um Nutzungskonflikte zu vermeiden und einen guten ökologischen Zustand der Fließgewässer zu erreichen, ist neben einem erhöhten Abstimmungsbedarf zwischen den genannten Akteuren ein politisches Umdenken sowie ein sofortiges Handeln erforderlich. Denn eine mögliche Aufweichung der Europäischen Wasserrahmenrichtlinie hätte irreversible ökologische Schäden für unsere fragilen Ökosysteme zur Folge. Zukunftsweisende und nachhaltige Lösungen sind notwendig, die nur gemeinsam im Dialog erreicht werden können.


Die 15. Hamburger Gespräche für Naturschutz lieferten den wegweisenden Impuls für einen gesellschaftlichen Dialog mit allen relevanten Akteuren, um die EU-Wasserrahmenrichtlinie mit ihren aktuellen Standards und Fristen zur Zielerreichung konsequent bis 2027 umzusetzen. Die Umweltstiftung Michael Otto wird dazu in den kommenden Monaten einen Dialogprozess anstoßen, der unter Einbindung der beteiligten Stakeholder die Grundlage für einen gesellschaftlichen Konsens zum Erhalt und zur Umsetzung der EU-Wasserrahmenrichtlinie als eine starke europäische Gesetzgebung zum Schutz unserer Gewässer bildet.

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